2018 verstarb mein Vater in meinen Armen. Sein letztes großes Geschenk an mich brachte meine Welt komplett ins Wanken: „fang an zu leben, nicht nur zu träumen!“, schien er mir mit seinem letzten Atemzug zuzuhauchen.
Tief nagender Zweifel fraß sich vier lange tolle beschwerliche unvergessliche Wanderjahre durch meine Eingeweide: „was bedeutet es, ein Mensch zu sein?“ Ich traute mir selbst nicht mehr, weder meinem eigenen Denken, noch meinen Gefühlen.
Es gab Erinnerungen, was ich alles geglaubt und gewollt hatte …
– erzogen von Elternhaus, Schule und Universität
– beeinflusst von Freunden, Umwelt, Kunst und Kultur
– geprägt von meinen eigenen Vorlieben und Erfahrungen.
– immer in einem Kontext der Idee von Ländern und Nationen und der demokratisch-kapitalistischen Leistungsgesellschaft.
Nach meiner spirituellen Ausbildung in den Jahren 1994 bis 1996 (siehe mein Buch „Tödliche Freiheit“ aus dem Jahr 2001) war ich schon einmal ähnlich verzweifelt gewesen.
Damals hatte ich schmerzvoll erkennen müssen, dass ich als junger Mensch nur immer das Gegenteil gemacht hatte von dem, was meine Eltern von mir erwartet hatten.
Ich hatte das für Freiheit gehalten – dabei war es nur der Käfig meiner Eltern „mal minus eins“ gewesen.
1996 war die Lösung für mich gewesen, dass ich der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft eine echte Chance gab. Ich wollte eine „gute“ Karriere machen und durch mein Wirken die Welt „besser“ machen.
Und wieder hielt ich mich für frei…
Aber nach 22 Jahren stetem Ringen und Bemühen brach mit dem Tod meines Vaters unerwartet alles einfach auseinander, nichts hielt mehr, nichts stimmte noch.
Da erinnerte ich mich an den „Starken Wanja“, ein Kinderbuch von Otfried Preußler: Wanja war mit leichtem Rucksack durch Russland gewandert, hatte den Menschen am Wegesrand geholfen und viele Abenteuer erlebt, bis er am Schluss seine Frau, seinen Platz und inneren Frieden gefunden hatte.
Ich hatte nichts mehr zu verlieren und wanderte also los.
Doch anders als Wanja fiel ich immer tiefer, bis ich mich vier Jahre später in meiner eigenen „alten“ Wohnung wiederfand und vollkommen entkräftet dem Hell- und Dunkelwerden zusah.
All die Erfahrungen in Litauen, Lettland, Russland und Sibirien, Thüringen und das Harz, unterschiedlichste Lebens-Gemeinschaften und letztendlich das eigene Scheitern in einer oberbayerischen Land-WG – was war denn nun eigentlich „wirklich“ richtig und was falsch?
In mir selbst Chaos und um mich herum in der Welt – gefühlt – nicht weniger Chaos … woran sollte ich mich orientieren, mich ausrichten – wo war Licht?
Einzig der Sonne vertraute ich noch: seit Milliarden von Jahren geht sie auf und unter. Die Sonne beruhigte mich.
Und da erinnerte ich mich plötzlich an meinen guten alten „Kreis des Seins“.
18 lange Jahre hatte ich an diesem Kreis des Seins herum gebastelt. Ich hatte mich schon mehr als einmal von ihm zu trennen versucht, hatte aber meine Aufzeichnungen nicht entsorgen können.
Und oh Wunder – wie wenn es all diese widersprüchlichen Erfahrungen gebraucht hätte – plötzlich passte alles zusammen!
Vom „dir wird es einmal besser gehen“ meines Elternhauses – über das stetige Wachstum als kapitalistische (sozialistische) Kultur – inklusive des Gefühls „das einzig Stete ist der Wandel“ – bis hin zur (nicht bewertenden) Betrachtung der Natur … kurz alles floss und fügte sich – ohne sich ständig zu widersprechen und auszuschließen – in ein großes geordnetes „sowohl als auch“.
Davon würde ich gern erzählen – und weiß noch nicht wie?
P.S: Außer meinem jährlichen Lebenszeichen ist es ruhig geworden hier. Die Reise von der ich hier berichtete, hat ihr Ende gefunden. Ich bin wieder daheim angekommen.
In der nächsten Zeit möchte ich den Blog behutsam umbauen: ich werde nicht mehr zweisprachig schreiben. Ich behalte Russland tief in meinem Herzen. Ich bin dankbar für alles Erlebte, für all die wunderbaren Begegnungen mit wunderbare Menschen unterwegs. Ich werde mich immer verbunden fühlen.
Seit ich zurück in Augsburg bin, beziehe ich die Bücher, die ich lese, aus öffentlichen Bücherschränken (im Hofgarten, bei der Flosslände am Lech, im Cafè Himmelgrün und im Durchgang zum Kräutergarten beim Rabenbad). Ich habe das Gefühl, dass „meine“ Bücher so zu mir finden …
Dadurch kam „Der Ring der Kraft“ von Carlos Castaneda (wieder) zu mir. In meiner oben erwähnten spirituellen Ausbildung waren die Lehren des „Don Juan allgegenwärtig – aber nun las ich das Buch nach fast 30 Jahren zum zweiten Mal mit ganz anderen Augen. Etwas in mir drin ging in Resonanz mit dem Lesestoff – am kognitiven Verstehen vorbei…
Ich habe dort vielleicht den „Grund“ gefunden, warum es mir so schwer fällt, das „Unbeschreibliche“ mit Worten auszudrücken! Könnte ich doch malen oder musizieren oder dichten oder mit Holz gestalten oder mich anderweitig künstlerisch ausdrücken?!
Gespräch von C. Castaneda und seinem Lehrer Don Juan – zitiert aus:
C. Castaneda, Ring der Kraft, Fischer Verlag, 1974, S. 141ff, Taschenbuch
„Wenn das Tonal all das ist, was wir über uns und unsere Welt wissen, was ist dann das Nagual?“
„Das Nagual ist der Teil von uns, der uns ganz unzugänglich ist.“
„Wie bitte?“
„Das Nagual ist der Teil von uns, für den es keine Beschreibung gibt – keine Wörter, keine Namen, keine Gefühle, kein Wissen.“
„Das ist ein Widerspruch, Don Juan. Wenn es nicht gefühlt oder beschrieben oder benannt werden kann, dann kann es meiner Meinung nach nicht existieren.“
„Nur deiner Meinung nach ist es ein Widerspruch. Ich habe dich schon gewarnt, bring dich nicht um im Bemühen, das zu verstehen.“
„Würdest du sagen, dass das Nagual der Geist ist?“
„Nein. Der Geist ist nur ein Gegenstand auf dem Tisch. Der Geist ist Teil des Tonal. Sagen wir einmal, der Geist ist diese Chiliflasche.“
Er nahm eine Gewürzflasche und stellte sie vor mir auf den Tisch.
„Ist das Nagual die Seele?“
„Nein. Auch die Seele gibt es auf dem Tisch. Nehmen wir einmal an, die Seele sei der Aschenbacher.“
„Sind es die Gedanken der Menschen?“
„Nein. Auch die Gedanken sind auf dem Tisch. Die Gedanken sind das Besteck hier.“
Er nahm eine Gabel und legte sie neben die Chiliflasche und den Aschenbecher.
„Ist es der Zustand der Gnade? Der Himmel?“
„Nein, das auch nicht. Das, was es auch sein mag, ist ebenfalls Teil des Tonal. Sagen wir, es sei die Serviette.“
Ich fuhr fort und zählte alle Möglichkeiten der Beschreibung auf für das, was er meinen mochte: Intellekt, Psyche, Energie, Lebenskraft, Unsterblichkeit, Lebensprinzip. Für jeden Begriff, den ich nannte, fand er auf dem Tisch einen Gegenstand, den er als Gegenstück benutzte und vor mir aufbaute, bis er alle auf dem Tisch befindlichen Objekte auf einem Haufen versammelt hatte.
Don Juan schien die ganze Sache ungeheuren Spaß zu machen. Er kicherte und rieb sich die Hände, sooft ich eine weitere Möglichkeit erwähnte.
„Ist das Nagual das höchste Wesen? Der Allmächtige, Gott?“
„Nein. Auch Gott gibt es auf dem Tisch. Nehmen wir an, Gott sei das Tischtuch.“
Er machte eine spaßige Gebärde, als wolle er das Tischtuch an den Zipfeln hochheben, um es über den anderen Gegenstände zu breiten, die er vor mir aufgestellt hatte.
„Aber sagtest Du nicht, dass Gott nicht existiert?“
„Nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte nur, dass das Nagual nicht Gott ist, denn Gott ist ein Gegenstand unseres persönlichen Tonal und des Tonal der Zeiten. Wie schon gesagt, das Tonal ist alles, woraus die Welt sich, wie wir glauben, zusammensetzt – einschließlich Gott, natürlich. Gott hat nicht mehr Bedeutung, als dass der ein Teil des Tonal unserer Zeit ist.“
„In meinem Verständnis, Don Juan, ist Gott alles. Sprechen wir überhaupt über dasselbe?“
„Nein. Gott ist nur all das, was du zu denken vermagst, daher ist er, genaugenommen, nur einer unter den Gegenständen auf der Insel. Man kann Gott nicht willentlich erleben, man kann nur über ihn sprechen. Das Nagual hingegen steht dem Krieger zu Gebot. Man kann es erleben, aber man kann nicht darüber sprechen.“
„Wenn das Nagual keines der Dinge ist, die ich genannt habe, kannst du mir dann vielleicht etwas über seinen Aufenthaltsort sagen? Wo ist es?
Don Juan fegte mit der Hand durch die Luft und wies auf den Raum außerhalb der Tischkanten. Er bewegte die Hand, als wollte er eine imaginäre Oberfläche säubern, die über die Kanten des Tisches hinausreichte.
„Das Nagual ist dort“, sagte er. „Dort, es umgibt die Insel. Das Nagual ist dort, wo die Kraft schwebt.
Vom Augenblick unserer Geburt an fühlen wir, dass wir aus zwei Teilen bestehen. Zum Zeitpunkt der Geburt und noch kurz danach sind wir nur Nagual. Dann fühlen wir, dass wir, um zu funktionieren, ein Gegenstück zu dem brauchen, was wir haben. Was fehlt, ist das Tonal, und dies gibt uns von Anfang an das Gefühl der Unvollkommenheit. Dann fängt das Tonal an zu wachsen, und es wird ungemein wichtig, so wichtig, dass es den Glanz des Nagual verdunkelt, es zurückdrängt. Von dem Augenblick an, da wir ganz Tonal sind, tun wir nichts anderes, als jenes alte Gefühl der Unvollkommenheit zu verstärken, das uns seit dem Augenblick unserer Geburt begleitet und das uns beständig sagt, dass es noch einen anderen Teil braucht, um uns zu vervollständigen.
Von dem Augenblick an, an dem wir ganz Tonal werden, fangen wir an Paare zu bilden. Wir fühlen unsere zwei Seiten, aber wir stellen sie uns immer nur anhand von Gegenständen des Tonal vor. So sagen wir, dass unsere zwei Teile Körper und Seele sind. Oder Geist und Materie. Oder Gut und Böse. Gott und Satan. Aber nie erkennen wir, dass wir nur Gegenstände unserer Insel zu Paaren zusammenfassen, ganz ähnlich wir wenn wir Kaffee und Tee, Brot und Tortillas, Chili und Senf paarweise bezeichnen. Wir sind komische Wesen, sage ich dir. Wir tappen im Dunkel, und in unserer Torheit machen wir uns vor, alles zu verstehen.