Ich hatte ein bisschen Angst, als ich an den wartenden LKWs zu Fuß entlang marschierte.
Die letzte schlecht asphaltierte Strasse auf der „guten“ Seite vor der Grenze zwischen Lettland und Russland.
Russland sei kalt und gefährlich – so wurde ich in Lettland gewarnt.
Das kommt daher, weil es den Menschen dort schlecht geht …
Ich hatte mit „Lettland minus x“ gerechnet, hatte mich von all den Warnungen verunsichern lassen und stand nun in einem Land, das mich komplett überraschte!
Es war aber alles sauber asphaltiert mit feinen Bordsteinen und einer Tankstelle,
die selbst in Deutschland in Sachen Service und Sauberkeit positiv aufgefallen wäre…
Nach einer ersten Nacht im Wald, ich bin quer mit dem Kompass durch den Wald, über Moore und Seen.
Ich finde spannende Spuren …
Kurz vor der ersten größeren Stadt hielt plötzlich ein Auto neben mir.
Der Fahrer nahm mich einfach mit!
Er machte eine Stadtrundfahrt mit mir und brachte mich in ein Restaurant mit Internet.
Er schrieb mir seine Nummer auf, falls ich noch Hilfe brauche …
… das ist mir das letzte Mal vor ungefähr 30 Jahren in Frankreich passiert.
Tags drauf im Zentrum des Naturschutzparks fragte ich nach einer Karte.
Daraufhin nahm der Direktor seine Jacke und begleitete mich in einen kleinen Schreibwarenladen, wo es die Wanderkarte auch tatsächlich gab…
Meine Bank-Karte funktioniert wie daheim, ich genieße die kyrillische Schrift überall …
wie wenig weiß der Westen über Russland … was hatte ich unnötig Angst …
Damit entsteht ein zweiter Grund für diesen Blog (neben dem Mutmachen):
ich will erzählen, wie ich dieses angeblich so dunkle und gefährliche Land erlebe – auf der untersten lebenspraktischen Ebene.
Ich bin im Anastasia-Dorf „Reiner Himmel“ in einer sympatischen Familie gelandet.
Dort wird NUR russisch gesprochen.
Eine tolle Sprach-Schule auf dem Land!
Ich kann hier bis zum 15.1.19 (Ende meines Visums) bleiben und
soll für eine Woche hier das Haus mit Hund und Katze hüten …
… und gehe jetzt Schlittschuhlaufen!
Meine subjektive Bestandsaufnahme nach einem Dutzend Tagen:
Russland hat „solide“ Infrastuktur und ein für mich ganz subjektiv mit Frankreich vergleichbares Lebensgefühl.
Als Deutscher fühle ich mich geschätzt und herzlich willkommen
bei fast unglaublich hilfsbereiten und selbstbewussten Menschen.
Grosse Schwierigkeiten macht mir die Sprache.
Die Russen können – ähnlich wie die Franzosen – überhaupt nicht langsam sprechen und verbinden die einzelnen Worte zu teilweise ganz neuen Worten.
Ich verstehe manche Menschen ein bisschen, die allermeisten noch gar nicht.
über den Alltag im Dorf:
Um den Jahreswechsel herum wurde es hier so richtig hell erst ab 10 Uhr.
Dunkel wurde es gegen 17.30 Uhr. Das war ungewohnt für mich.
Dafür dauern hier die Sonnenuntergänge doppelt so lange als in Augsburg!
Auch die Sonnenaufgänge dauern doppelt so lang…
So richtig kalt finde ich es hier noch nicht.
Die verschneiten Seen sind in den letzten Tagen wieder fast aufgetaut und das Eis trägt nur noch so gerade …
… in den letzten Tagen hat es viel geschneit, viel getaut und jetzt hat es wieder für mich sehr angenehme minus acht Grad.
Laut Zeitungsbericht soll halb Schweden ohne Strom gewesen sein – ich hier auch.
Ein kleines Abenteuer, weil ich ja allein das Haus hütete.
Ohne Strom auch kein Wasser, weil die Grundwasserpumpe nicht ging.
Dafür hatte ich Gas.
Und gerade als ich nach einem knappen Tag ohne Strom Schnee schmelzen und abkochen wollte, ging das Licht wieder an.
Ich habe fast ständig russisches Fernsehen im Hintergrund, so wie viele Familien im Dorf hier auch.
Ich mag einfach den Klang der russischen Sprache.
Im russischen Fernsehen sehe ich viel deutsche Werbung für Schokolade, Katzenfutter, Autos und „Gesundheit“ …
Hier im Dorf machen einige Menschen das meiste selbst, kochen viel ein und stellen auch ihre Süßigkeiten selbst her.
Licht empfinde ich hier als Statussymbol.
Die Menschen hier im Dorf gehen unterschiedlich damit um.
Manche beleuchten Ihre Einfahrt den ganzen Abend wie mit Flutlicht.
Andere verzichten ganz auf ein Außenlicht.
Kleidung sehe ich hier auf dem Dorf als eher zweitrangig und auf pragmatische Dingen ausgerichtet.
Sebezh, die kleine Stadt in der Nähe (ca. 30 km), ist ein Einkaufsparadies für entscheidungsschwache Menschen wie mich … es gab genau eine Alltags-Hose. Für Angler und Jäger hing dagegen ein ganzes Regal voll!
Die Menschen hier scheinen es gern kuschelig zu mögen, so mein Eindruck.
In den Häusern laufen die Kinder meist nackt, die Erwachsenen in Shorts und die Männer ohne T-Shirts.
Wird es zu heiß, werden einfach die Fenster geöffnet. Die Heizungen lassen sich hier nicht regulieren.
In den meist kleinen Häusern wohnen unendlich viele Geschichten auf mitunter sehr wenig Raum …
Hier sieht man bei genauem Hinschauen die Arbeitsplätze der Eltern!
Das Dorf, in dem ich gerade dreieinhalb Wochen verbringe, scheint mir auf die Freiheit jeder einzelnen Familie ausgerichtet.
Jede Familie lebt so, wie sie es mag.
Es gibt keine Regeln, die für alle gelten, es gibt auch keine „Befindlichkeits-Treffen“ oder Diskussionen, wie etwas zusammen gemacht werden soll.
Hier definiert sich Gemeinschaft vielleicht nicht über Regeln, die dann überwacht und eingehalten werden müssen, sondern über zwischenmenschliche Nähe unter Nachbarn.
Wenn ich nicht auf Menschen zugehe, dann bleibe ich allein.
Ich empfinde es als ähnlich wie einem kleinen hessischen Dorf, in dem ich mal ein paar Jahre gelebt habe.
Dort gab es einen Dorfbackofen – hier gibt es einen gemeinschaftlich genutzten Lagerfeuerplatz mit Hütte und Bühne.
Ansonsten gilt, was Deinen Nachbarn nicht stört, ist erlaubt.
О дети, придите, придите скорей!
В пещеру и к яслям спешите живей!
В такую святую и дивную ночь
родился Сын Божий, чтоб людям помочь.
Und die Menschen hier singen gern.
Ich habe dort versucht, ein Lied zu finden, dass bei gleicher Melodie einen russischen und deutschen Text hat – Fehlanzeige.
Inzwischen habe ich eins gefunden: „Bruder Jakob“
Bratjetz Jakow, Bratjetz Jakow!
schto ty spisch, schto ty spisch?
||: kolokol usch zwonit, :||
Din-don-don, din-don-don.
Bruder Jakob, Bruder Jakob,
Schläfst du noch? Schläfst du noch?
|: Hörst du nicht die Glocken? 😐
Ding dang dong, ding dang dong.
Den ersten Vergleich mit Frankreich würde ich persönlich so aufrechterhalten … für mich ist es hier im Dorf ein bisschen wie die 1980iger in Deutschland.
Die Menschen hier haben noch Zeit …
Manche haben IT-Jobs, viele sind Handwerker oder Bauern oder Rentner.
Die Frauen tragen Röcke oder Hosen, arbeiten oder tun dies nicht …
und fast alle haben mehrere Kinder.
Wenn jemand vorbeikommt, wird Tee getrunken und erzählt.
Manchmal setzen sich die Männer dazu, manchmal überlassen sie das Reden ihren Frauen.
Von außen sehen alle Holzhütten recht ähnlich aus, eher funktional als repräsentativ – von innen könnten sie unterschiedlicher nicht sein!
Morgen, am Dienstag 15.1. endet mein erstes russisches Visum (30 Tage) und es zieht mich nicht zurück nach Augsburg.
Ich habe einen Platz zum Weiterlernen in einer russischen Familie in Lettland, Daugavpils gefunden (wo ich bereits vier Wochen war und wo im Alltag auf der Strasse nur Russisch gesprochen wird).
Russisch zu lernen hat weiter oberste Priorität fuer mich.
Russisch nicht so exakt als Sprache wie das Deutsche.
Das macht Spaß, weil mir dies einen neuen Blick auf vertraute Sachverhalte gibt …
Auch hat Russisch viele Worte, die aus dem Französischen, Englischen oder Deutschen stammen.
GER als Silbe steckt im Russischen Wort für “Held” – ist uns Deutschen das Heldentum vielleicht im Namen verankert?
Hier sind meine russischen Helden.
Sie haben es drei Wochen mit mir ausgehalten …
… auf nicht allzu viel Raum!
Und hier kommen natürlich noch die Bilder von der „banja“, eine Art Sauna mit integriertem Waschhaus, die zu (fast) jedem Haus dazugehört …
Ein Ofen, viel Wasser (heiss und kalt) und eine kleine Fläche zum Sitzen und Liegen – und davor ein Platz zum sich Waschen.
… und zum Abschied noch mal mein Häuschen …
ich hatte es nur zum winterlichen Test aufgestellt.
… für mich eine Art eierlegende Wollmilchsau mit seinen 500g Gewicht!
dieser Text ist noch doppelt – auch im Bericht über Anastasia
4 Gedanken zu „fast vier Wochen im reinen Himmel – 1. Visum in Russland“